Cover
Titel
Widerständiges Wissen. Widerstandskonzeption und Wissensproduktion in den theoretischen Kontroversschriften um 1100


Autor(en)
Nix, Maximilian
Reihe
Historische Studien
Anzahl Seiten
339 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp N. Spahn, Gelnhausen

Der Investiturstreit (1076–1122) und speziell die Schriften, in denen die Streitfragen der Zeit um 1100 verhandelt wurden, sind seit dem 19. Jahrhundert insbesondere in der deutschen Mittelalterforschung viel beachtet und als Zeugnisse tiefgreifender Umwälzungen ganz unterschiedlich betrachtet worden. Eine neue Perspektive, nämlich die der Wissensgeschichte, die seit den frühen 2000er-Jahren auch die mediävistischen Diskussionen etwa im „Wissen über Bischöfe“1 oder um „Wissensordnungen des Rechts“2 bereichert hat, nimmt Maximilian Nix in der vorliegenden Studie ein. In der von Steffen Patzold betreuten Dissertation aus dem Jahr 2020, die im Rahmen des Tübinger Graduiertenkollegs 1662 „Religiöses Wissen im vormodernen Europa (800–1800)“ entstanden ist, wird „nach dem ‚Wissen‘ über ‚Widerstand‘ innerhalb der theoretisch argumentierenden Kontroversschriften“ (S. 14) gefragt, der in diesen ein zentrales Thema sei.

Um das Wissen um Widerstand freizulegen, verfolgt Nix zwei Ziele. Einerseits sollen die Entstehungsbedingungen und -gründe vier ausgewählter Kontroversschriften herausgearbeitet werden. Und andererseits geht es darum, zu erklären, weshalb die Autoren dieser (und anderer) Kontroversschriften trotz gleicher Argumentationsgrundlage zu ganz unterschiedlichen Bewertungen von Widerstand kamen (S. 14).

Wie versucht Nix, dieses Unterfangen konkret zu bewerkstelligen? Neben den üblichen Vorbemerkungen zu Forschungsstand und Vorgehen wird einleitend (I. Einleitung, S. 11–36) deutlich, dass die drei zentralen Begriffe, um welche die Untersuchung kreist, nämlich Theorie (S. 31–33), Widerstand (S. 30f.) und Wissen (S. 20–27), nicht primär als historische zu verstehen sind. Als Analysekategorien gebraucht, unterliegen die Begrifflichkeiten den gelehrt klingenden Definitionen von Nix. „[I]nformationsorganisierend[,] […] prospektiv[,] […] allgemeingültig sowie klassifizierend“ (S. 32) und daher theoretisch argumentierend seien vier Kontroversschriften: der „Liber de unitate ecclesiae conservanda“ eines Anonymus aus Hersfeld (1091–1093 [S. 35]), Hugos von Fleury „De regia potestate et sacerdotali dignitate“ (1102–1105 [S. 100]), die Normannischen Traktate (um 1100 [S. 151]) sowie die „Summa gloria“ des Honorius Augustodunensis („Mitte der 1110er Jahre“ [S. 226]). Das Kriterium „Theorie“ ermögliche Vergleichbarkeit (S. 31, Anm. 99), obschon den als theoretisch argumentierend bestimmten Schriften wie allen aus der Zeit um 1100 eine Praxisorientierung zu-grunde liegt (S. 29, 289).

In chronologischer Abfolge werden die vier Schriften auf die Arbeitsweise ihrer Verfasser und deren Widerstandskonzeption hin befragt. Die Art und Weise der Wissensproduktion, das zeige sich in der Verbindung der äußeren wie der inneren Quellenanalysen, sei in jeder Schrift eine andere. Im Traktat des Hersfelder Anonymus stelle sich Wissensproduktion als „Kampf um Deutungshoheit“ (S. 91) dar, der hauptsächlich in der Auseinandersetzung mit dem bekannten zweiten Brief Papst Gregors VII. an Bischof Hermann von Metz aus dem Jahr 1081 stattfindet (II. Anonymus aus Hersfeld, Liber de unitate ecclesiae conservanda, S. 34–99), auf den die Schrift des Hersfelder Anonymus in Teilen bekanntlich eine Replik darstellt. Hugo von Fleury produziere Wissen, indem er zahlreiche Ansichten miteinander verbinde und so Meinungen generalisiere (III. Hugo von Fleury, Tractatus de regia potestate et sacerdotali dignitate, S. 100–150). Die Normannischen Traktate seien nicht, wie häufig angenommen, einer einzelnen Feder entsprungen, sondern das Ergebnis unterschiedlicher Verfasser, die allerdings aufeinander bezogen argumentierten. Im Kodex, der die Traktate überliefert, werde Wissen demnach diskursiv produziert (IV. Die Normannischen Traktate, S. 151–220). Honorius Augustodunensis nutze bewusst bekannte Argumente, verändere diese nur leicht und rücke sie somit in ein neues Licht (V. Honorius Augustodunensis, Sum-ma Gloria, S. 221–274).

Weder dürften, resümiert Nix, unterschiedliche Arbeitsweisen über gemeinsam geteilte Vorstellungen vom Aufbau einer theoretischen Kontroversschrift hinwegtäuschen (S. 279) noch habe, wie schon Alanus ab Insulis (vgl. PL210, Sp. 333A) und andere erkannten, die scheinbare Eindeutigkeit vieler, insbesondere biblischer Argumente widerstreitende Auslegungen unterbunden, im Gegenteil (S. 281). Wissen, hier um Widerstand, habe somit aufgrund und nicht trotz der Rückbindung insbesondere an biblische Autoritäten einem Wandel (S. 282) unterlegen, und das in einer methodischen Vielfalt, die eine Fortschrittserzählung hin zur Scholastik erschwere (S. 286, 290).

So schlägt Nix, indem er die Beobachtungen in den Forschungskontext einordnet, offene Fragen ausweist und Grenzen des eigenen Schaffens reflektiert, einen Bogen zurück zum Ausgang der Arbeit (VI. Beobachtungen – Einordnung – Folgerungen, S. 275–296).

Eine Übersicht der Normannischen Traktate (VII. Appendix – Übersicht über die Normannischen Traktate, S.297–301), ein Abkürzungs- (S.302f.), ein Quellen- (S. 304–311) und ein recht überschaubares Literaturverzeichnis (S. 311–333), in dem man etwa die oben erwähnten Studien vergeblich sucht, sowie ein Register (S. 334–339) der Orte und Personen beschließen den Band.

Hinsichtlich der dargebotenen Ergebnisse überzeugt der Zugriff auf die Quellen, legt er doch die Entstehungsprozesse neuen Wissens frei. Er birgt aber zugleich ein Problem, denn Wissen entsteht nicht erst in der Auseinandersetzung mit Informationen, hier in den Kontroversschriften, sondern liegt den Erörterungen bereits zugrunde. Deutlich wird das in den vier untersuchten Schriften etwa mit Blick auf das Gebot des Apostels Paulus, weltlicher Obrigkeit untertan zu sein (vgl. Röm 13,1). Obschon dieses in den vier untersuchten Schriften zentral ist (S. 280), dürften die Auseinandersetzungen in den Kontroversschriften nicht um die allgemeine Frage, „ob Widerstand erlaubt sein kann“ (S. 30), gekreist sein, schließlich kennt die Bibel keine grundsätzliche Illegitimität von Widerstand. Im Alten Testament etwa missachten Hebammen aus Gottesfurcht das Gebot des ägyptischen Königs, die neugeborenen Jungen zu töten (vgl. Ex 1,15–17), im Neuen ist Petrus und den Aposteln in den Mund gelegt, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen (vgl. Apg 5,29).

Widerstand wurde im christlichen Mittelalter und somit auch von den Autoren der Kontoversschriften immer dann als legitim erachtet, wenn die Umstände diesen rechtfertigten. Die Auseinandersetzungen in den Kontroversschriften kreisten daher vielmehr um die Frage, ob der Fall legitimen Widerstands eingetreten sei. Nicht erst vor dem Hintergrund, dass die untersuchten Traktate in konkreten Streitfragen aus Gründen „praktischer Einflussnahme“ (S. 289) entstanden, ist es deshalb „nicht erstaunlich, dass die meisten Texte im Kontext von Widerstand eine Form von einschränkend-bestätigender Argumentation zeigen“ (S. 289f.). Aufgrund des kollektiven biblischen Wissens um Widerstand im christlichen Mittelalter war das grundsätzlich erwartbar. Dass nur in zwei der vier untersuchten Traktate die clausula Petri aus der Apostelgeschichte erwähnt ist (S. 89, 260), könnte auf (bewusst) verschleiertes Wissen hindeuten, das mittels des produktionsorientierten Ansatzes von Nix allerdings nicht wahrnehmbar ist.

Das ändert nichts an der Tatsache, dass es Nix in mühevoller Kleinarbeit gelungen ist, unser Wissen um die Arbeitsweise in vier Kontroversschriften und die in diesen geführten Diskussionen um Widerstand geschärft zu haben. Zukünftige Arbeiten sowohl zu den vier Traktaten als auch zum Widerstandsdenken speziell in den Auseinandersetzungen um 1100 dürften von seinen Überlegungen profitieren.

Anmerkungen:
1 Steffen Patzold, Episcopus. Wissen über Bischöfe im Frankenreich des späten 8. bis frühen 10. Jahrhunderts (Mittelalter-Forschungen 25), Ostfildern 2008.
2 Stephan Dusil, Wissensordnungen des Rechts im Wandel. Päpstlicher Jurisdiktionsprimat und Zölibat zwischen 1000 und 1215 (Mediaevalia Lovaniensia. Series I/Studie XLVII), Löwen 2018.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch